Kreuzberger Chronik
Mai 2020 - Ausgabe 219

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Fummelwerner


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von Bernd Schulz

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Bin erschrocken, wie er so durch die Großbeerenstraße latschte, er konnte kaum noch gehen, es regnete und kalt war es auch... »Mensch Werner, wie gehts denn so? Hätt dich ja fast nicht erkannt.«

»Siehste ja, nich besonders! Arthritis und Wasser in den Beinen.« - »Warum gehst´e denn nicht zum Arzt?« - »Man, Alter, bin doch nich versichert!« - Ist doch egal, bei der Grundsicherung is doch der Doktor mit drin ... Aber egal, ich will dir nichts erzählen. Schmeckt denn das Bier wenigstens noch?« - »Nich so richtig! Werde zu schnell müde und Geld sitzt auch nich mehr so locker wie früher. Überhaupt, so richtig Bock hab ich nich mehr zum Leben, oder was da noch kommen kann. Dieses immer alleine, macht mich fertig. Bin da angekommen, wo ich nie hin wollte, und jetzt steh ich hier und ich weiß nich weiter. Zum Umdrehen is es zu spät, bleibt nur die Kiste!«

Fummelwerner! Wir kannten uns fast fünfzig Jahre! Im Leier-kasten hatten wir uns kennengelernt, nach zehn Bieren ... Die Kneipen waren unser Zuhause und die Türen immer offen, auch für uns. Er wollte zeitlos sein, vielleicht war das der Grund, weshalb er immer mit Jacken rumlief, die aussahen als wären sie aus einem Teppich zusammengeschneidert worden. Denke, da kam auch sein Name her. Fummel. Alle sagten Fummel. Und erzählten, er hätte immer an den Frauen herumgefummelt. Ich glaub, das war´n die Teppiche.

Die letzten Jahre, in denen er so durch Kreuzberg schlich und keinen Kontakt mehr wollte, war er ziemlich vereinsamt und nur noch mit sich selbst beschäftigt. Da gab´s keinen Platz mehr für die Vergangenheit, von der er immer nur enttäuscht wurde. Diese unnützen Flurgespräche auf kalten Gängen, diese Oberflächlichkeit hingen ihm zum Hals raus. Vieles wurde geredet und nichts gesagt. Und Fummel, er hätte Hilfe gebraucht, von Leuten die Ahnung hatten von einem, der nur noch Bier als Nahrung brauchte ...

Keiner war da für ihn! Wahrscheinlich hätte er sowieso nicht in einem Gouvernantenstaat leben wollen. Aber ein Teil dieses Ganzen wäre er immer gerne gewesen. Nun machten sie alle einen großen Bogen um ihn. Warum, das verstand ich nie.

Aber so hat sich eben alles verändert. Die Zeit hat unseren Vorstellungen von einer besseren Welt ein ziemlich hässliches Gesicht aufgesetzt. Eine Fratze.

Am 27. Juni 2018 haben sie ihn gefunden. Lag wohl mehrere Tage tot in der Wohnung ... Unsere Wege führten über Leierkasten, Nulpe, Sternling, Yorckschlößchen und Tankstelle immer nur durch Kreuzbergs Kneipen, wir sangen und tranken, bis uns das Lachen verging. Fummel, werde dich vermissen, alter Freund! •

Die Open Page ist unsere journalistisch literarische Open Stage. Sie bietet Platz für jene Texte, die aus dem üblichen Rahmen fallen. Schreiben Sie!


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